Robert Lehmann
(Kontrafunk aktuell vom 28.12.2022)
Es ist immer wieder erstaunlich, zu welchen Verrenkungen viele Menschen in der Lage sind, um ihr Verhalten im Nachhinein vor sich selbst zu rechtfertigen oder jenen Lug und Trug zu relativieren, dem sie auf den Leim gegangen sind.
Drei- oder Vierfachgespritzte reden sich in vollendeter Verkennung der Wirklichkeit ihren milden Verlauf schön, andere hüllen sich ob der letzten Jahre in ignorantes Schweigen, und Berufsrelativisten sind der Meinung, es sei nunmehr an der Zeit, einander zu verzeihen.
Diese Relativisten sind meisterhaft darin, Dinge für erledigt zu erklären, die sie selbst nie erlitten haben. Sie gehören zu jenen, die die größten Grundrechtseinschränkungen und Menschenrechtsverstöße seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mitgetragen haben, und sie erdreisten sich, den kritischen Geistern das Loslassen ans Herz zu legen.
Der cool daher plappernde Youtuber Sinan Kurtulus ist beispielsweise der Meinung, dass zwar Fehler begangen wurden, die Schwurbler diese aber langsam mal verzeihen und loslassen müssten.
Wir erinnern uns außerdem an Jens Spahn – Deutschland’s ehemaligen Bundesgesundheitsminister. Der schrieb ein Buch, in dem er meinte, wir müssten uns gegenseitig verzeihen. Da ist es wieder – das große WIR – das immer dann zum Einsatz kommt, wenn das ICH zu feige ist, um für sich selbst zu sprechen. WIR müssen uns viel verzeihen. Wirklich.
Da frag ich mich doch: was sollten mir meine Mitmenschen verzeihen müssen? Habe ich andere aufgrund ihres Impfstatus ausgegrenzt? - Nein.
Habe ich Menschen als Schwurbler, Verschwörungstheoretiker, Spinner, Aluhutträger, asoziale Trittbrettfahrer und Ratten bezeichnet? - Nein.
Habe ich Menschen finanziell sanktioniert, weil sie sich erdreistet haben, ihr Gesicht offen zu zeigen, anstatt es hinter einem Anonymisierungslappen zu verstecken? - Nein.
Habe ich Menschen gedroht oder sie gar entlassen, weil sie sich gegen das große Narrativ gestellt haben? - Nein.
Habe ich Kinder auf staatliche Anordnung hin geschädigt, indem ich ihnen Spiel, Spaß, Schule, Großelternbesuche und andere Gemeinschaftsaktivitäten verboten habe? - Nein.
Habe ich Menschen drangsaliert, die während völlig sinnloser Ausgangssperren zwischen 22 Uhr und 4 Uhr morgens unterwegs gewesen sind? Nein.
Habe ich duckmäuserisch das Wohlgefühl einer Redaktionsstube aufrecht erhalten, jeden Tag aus dem Zusammenhang gerissene Zahlen in die Gehirne meiner Zuschauer gedroschen und jede Kritik als rechtsesoterisches Gerede verunglimpft? - Nein.
Habe ich Menschen zwangsversetzt? Bin ich unter Vorhaltung falscher Tatsachen in ihre Wohnung eingedrungen? Habe ich sie auf eigens dafür eingerichteten Internetseiten ohne Angaben zur eigenen Person denunziert? - Nein.
Nichts von alledem habe ich getan. Im Gegensatz zu vielen Menschen um mich herum, denen nach dem Ende der jahrelangen Panik plötzlich nicht mehr begreiflich ist, was an alledem eigentlich so schlimm war.
Und wofür genau soll ich mich nun entschuldigen?
Was sollen mir meine Mitmenschen verzeihen?
Sollen sie mir verzeihen, dass ich für das Einhalten von Grundrechten auf die Straße gegangen bin?
Muss ich um Verzeihung dafür bitten, offene – von Staatsseite propagierte - Diskriminierung und Menschenverachtung anzuprangern und mich dagegen zu wehren?
Soll ich jene Menschen um Absolution bitten, die jeden ihrer ach so verankerten Werte über den Haufen werfen, sobald ihre Regierung das gutheißt und die entsprechende Panik verbreitet? Brauche ich einen Beichtvater, der mich von der Sünde befreit, den katastrophalen Zahlensalat zu hinterfragen, den ich täglich fressen sollte?
Muss ich um Verzeihung dafür bitten, mein Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung über die Paranoia der Masse gestellt zu haben?
Oder soll ich mich vielleicht dafür rechtfertigen, dass ich meine Mitmenschen konfrontiert habe mit ihren endlosen Widersprüchen, ihrer Selbstverleugnung und ihrer bis zum Hirnbrand schmerzaften pathologischen Folgsamkeit?
Nein. Das werde ich nicht tun. Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen und bin demnach niemandem etwas schuldig.
Wenn, dann sind es jene, die das Chaos, die Panik, die Hetze, die Spaltung und die allzu offensichtlichen Falscherzählungen mitgetragen oder befeuert haben, die sich bei den Ungeimpften, den Demonstranten und den alternativen Medien entschuldigen müssten.
Sie alle haben mitgemacht. Sei es aus Angst, Überzeugung, Unwissenheit oder Gleichgültigkeit.
Wenngleich auch in den großen Medienhäusern hin und wieder der Ruf nach einer ehrlichen Aufarbeitung durch die Gänge schallt, so habe ich noch keinen einzigen Maßnahmenbefürworter getroffen, der sich und sein Verhalten kritisch reflektiert hätte und zugeben konnte, dass er falsch lag.
Erinnerungskultur ist eben nur dann wünschenswert, wenn sie einen nicht selbst belastet. Es sei denn, es geht um die eigenen Vorfahren. Die kann man leichtfertig jedes Fehlverhaltens bezichtigen, da man es selbst natürlich ganz anders gemacht hätte. Tatsache ist, dass die Deutschen in Sachen Traumabewältigung historisch betrachtet eine verdammt schlechte Figur machen. Sie haben das Trauma des Ersten Weltkrieges nicht aufgearbeitet, geschweige denn das Trauma des Zweiten Weltkrieges. Sie haben die Spaltung des Landes nach 1945 nicht aufgearbeitet und tragen den Ost-West-Konflikt noch heute mit sich herum. Sie haben die Wiedervereingung zwar geographisch vollzogen, sind psychisch jedoch getrennt geblieben. Und momentan sieht es so aus, als werden sie auch das Trauma des Corona-Unrechts unter einer Mauer des Schweigens und der Ignoranz begraben anstatt sich der Tatsache zu stellen, dass all ihre hohen Werte, die sie bei jeder Gelegenheit in die Welt hinaus brüllen, genau dann kollabieren, wenn sie am dringendsten gebraucht werden: im Angesicht von Ausgrenzung, Angstpropaganda und Totalitarismus.
Ich bin gespannt, wieviele künftige Historiker sich mit größtem Eifer an die Frage wagen, wie es anno 2020 zu diesem abrupten Kollaps kommen konnte. Irgend ein schlauer Analyst wird sicher feststellen, dass es etwas mit Angst, Panik und fehlender Aufarbeitung zu tun hatte. Dafür erhält er schließlich einen Doktortitel, und dann kann er sich damit brüsten, der Wissenschaft gezeigt zu haben, wie man solche Zusammenbrüche in Zukunft verhindert… zumindest bis zum nächsten Mal.